Meine Vision: Mehr Wertschätzung für Gesundheitsberufe & einen Platz im Mutter-Kind-Pass
Ich bin nicht Physiotherapeutin geworden, weil ich Millionen damit machen wollte, aber ich möchte ein angenehmes Leben haben und nicht jeden Cent dreimal umdrehen müssen. Ist das wirklich zu viel verlangt?
In regelmäßigen Abständen habe ich ein schlechtes Gewissen, gutes Geld für meine geleistete Arbeit zu verlangen und das, obwohl ich (seit fast 20 Jahren) Kindern dazu verhelfe, gesünder durchs Leben zu gehen.
Ich bin mir bewusst, dass die Gesundheitssysteme in Deutschland und Österreich besser sind als viele andere. Aber nur weil es etwas ganz ok ist, heißt es ja nicht, dass man nichts mehr ändern darf, oder? Und es hat ja einen Grund, dass in einigen Regionen nicht ausreichend “Nachwuchs” an Therapeutinnen oder Therapeuten vorhanden ist.
Was ist (mir) meine Zeit wert?
Wenn ich mich sonntags aus meiner Wohnung aussperre, daraufhin den Schlüsseldienst rufen muss, dann zahle ich für 2 Minuten Arbeit locker 350 Euro. Wenn ich aber nach fast 20 Jahren als Therapeutin 90 Euro für 1 Stunde Therapie verlange, muss ich ein schlechtes Gewissen haben, weil es sich nicht jeder leisten kann? Ist das wirklich so?
Ich spreche hier jetzt als selbstständige Physiotherapeutin. Es ist ein Unterschied, ob ich jeden Monat gerade so über die Runden komme oder mir ein angenehmes Leben machen kann und auch mal etwas leisten, reisen oder sparen kann.
Natürlich werden die Therapien (überall) in einigen Kassen-Ambulatorien (hier in Österreich) übernommen, aber wenn ich daran denke, dann kommt mir sofort der Spruch in den Kopf: “Was nichts kostet, ist nichts wert!” - denn genauso habe ich mich oft gefühlt, als ich noch in so einer Einrichtung gearbeitet habe. Nur wenige Patienten haben mir und meiner Arbeit (eine für mich angemessene) Wertschätzung und Dankbarkeit entgegengebracht.
Ich verdiene jetzt mit 20 Stunden mehr als früher bei 40 Stunden und muss mir von niemandem mehr etwas sagen lassen.
Ein Minuspunkt der Gratis-Therapie ist, dass die (meisten) Leute selber nichts tun und einfach zweimal im Jahr zur Therapie (oder auch nur zur Massage) gehen und meinen, dass wir das dann schon wieder richten werden.
Ich erinnere mich noch genau an einer meiner Patienten damals im Ambulatorium am Stadtpark. Der Herr hatte seit 20 Jahren Schmerzen und im Rahmen der Therapie konnte ich ihm die Schmerzen ein bisschen nehmen. Was sagt er: “Die kommen eh wieder.” Ich war so verärgert und froh, dass ich einige Wochen zuvor gekündigt hatte. Natürlich ist es nicht lustig, wenn man seit 20 Jahren Schmerzen hat, aber es ist auch nicht lustig, wenn man sich über keine kleinen Erfolge mehr freuen kann und immer nur das Negative in allem sieht.
Inzwischen weiß ich, wie viele Schmerzen im Kopf starten und wie viel sie mit der eigenen Einstellung und den Lebensumständen zu tun haben.
“Jeder ist seinen eigenen Glückes Schmied.” sagte ja schon eine alte Redensart.
Deutschland als Beispiel
Als ich im Jahre 2002 aus Deutschland nach Österreich gegangen bin, startete in Deutschland gerade die Rezeptgebühr. Die gibt es inzwischen nicht mehr.
Aber ich höre aus Deutschland eigentlich immer nur berechtigtes Jammern von den Therapeutinnen und Therapeuten in Privatpraxen, denn sie bekommen quasi nichts von den Kassen für ihre Therapien zurückerstattet. Meist verbringen sie mehr Zeit mit bürokratischen Dingen als an der Liege. Sie arbeiten sich dumm und dämlich und kommen gerade so über die Runden. Es passt ein Kreuzchen nicht am Rezept, schon kannst du wieder zur Ärztin oder zum Arzt laufen und es ändern lassen.
Man macht eine teure Manuelle Ausbildung und darf (gefühlte) 10 Cent mehr pro Therapie verrechnen. Immer muss von der Halswirbelsäule bis zu den Füßen alles auf dem Rezept vermerkt sein, denn sonst darf die Therapeutin den Patienten nur an der auf dem Rezept angegeben Stelle behandeln. Wie blöd ist dann denn?
Jetzt ist es aber sehr oft so - zumindest bei mir und meinen Patienten - das die Ursache nicht dort liegt, wo man von außen ein Problem sieht.
Wie oft kommen Kinder aufgrund von Knick-Senkfüßen zu mir und das Problem sind in den seltensten Fällen die Füße selbst, sondern eine Rectusdiastase oder schwache Rumpfmuskulatur. Oder viele Menschen haben Kopfschmerzen aufgrund von Fußfehlstellungen oder Fehlbelastungen - z. B. durch Stöckelschuhe in jüngeren Jahren. Das sind nur zwei Beispiele von vielen, die ich erzählen könnte.
Ich erinnere mich gerade an eine meiner ersten Fortbildungen im Jahr 2005 in Berlin. Es war eine Manuelle Fortbildung und es ging eine Woche nur um (muskuläre) Verkettungen und Zusammenhänge im Körper. Ich war so fasziniert und bin seither viel offener für alle möglichen Ursachen von Erkrankungen - vor allem die, die man vielleicht im ersten Moment gar nicht sieht.
30 Jahre nach der Wende
Am steilsten fand ich es vor Jahren, dass es in Berlin sogar so ist, dass die Therapeutin oder der Therapeut im ehemaligen Osten weniger von der Kasse bezahlt bekommt als im Westen - für dieselbe Therapie. Wie ist so was möglich 30 Jahre nach der Wiedervereinigung? Keine Ahnung, ob das immer noch so ist.
Ich bin heilfroh, dass ich nie in Deutschland gearbeitet habe, denn spätestens bei den 20 min Behandlungszeit würde ich aussteigen. Ich stelle mir eine ältere Dame im Winter vor - sie kommt, zieht sich aus, man macht 10 Minuten Therapie und dann kann sie sich schon wieder anziehen. Das bringt so überhaupt nichts!
Was bringen denn bitte 6x 20 Min? Definitiv nichts Nachhaltiges, denn sicher kann man oft schon mit Kleinigkeiten viel verändern, aber das ist nicht immer der Fall.
Ich habe auch in den Jahren, in denen ich noch mit Erwachsenen gearbeitet habe, gemerkt, wie wichtig das Zwischenmenschliche in der Therapie ist. Ich kann eine noch so tolle Therapeutin sein, wenn ich nicht auf mein Gegenüber eingehen kann, dann bringen die besten Techniken und Anwendungen nichts. Wenn ich aber einfach nur zuhören kann und auf die Bedürfnisse meines Gegenüber wertschätzend eingehe, dann ist das meist schon die halbe Miete und es braucht keine fancy neuen Behandlungstechniken, um der Person eine Erleichterung zu verschaffen.
Ich mache immer 45 Minuten Therapie und das ist mir oft zu kurz. In Deutschland müsste ich wahrscheinlich dann nur mit Privatpatientinnen und Patienten arbeiten.
Die Wertigkeit meiner Zeit und meines Wissens
Ich habe in den letzten Jahren Tausende von Euro in meine berufliche Weiterbildung investiert und in den ganzen Jahren seit meiner Selbstständigkeit 2x meine Preise minimal angehoben. Jedes Mal mit einem dezent schlechten Gewissen.
Aber ich muss am Monatsende auch meine Miete zahlen und ich sehe (inzwischen) nicht mehr ein, dass ich günstige Preise haben muss, damit es sich jeder leisten kann.
Inzwischen zählen die Preise in meiner Praxis zu den höheren in Graz und ich kann mittlerweile sehr gut damit leben, denn ich möchte gar keine Menschen, die nur die günstigste Therapeutin in Graz suchen.
Als ich noch als Angestellte im Mosaik gearbeitet habe, habe ich mich so oft über die Eltern geärgert, die 5 Minuten vorher die Therapie abgesagt haben oder auch gar nicht abgesagt haben. Wir durften ihnen leider diese Therapien nicht in Rechnung stellen und so haben sie es immer wieder gemacht.
Das entspricht wie gesagt, nicht der Wertschätzung, die ich mir für mich und meine Arbeit wünsche. Meistens waren es dann auch noch die Eltern, die sonst sehr fordernd und ungut unterwegs waren und immer alles nach ihrem Willen laufen musste. Ich bin so froh, dass ich nicht mehr angestellt bin, meine eigenen Regeln machen darf und mir meine Patienten selber aussuchen kann.
In meiner Praxis verrechne ich Termine, die nicht oder zu kurzfristig abgesagt werden, denn meine Zeit ist etwas wert und ich hätte bei einer rechtzeitigen Absage jemand anderen von der Warteliste einteilen können.
In der Zeit, als ich noch halb angestellt und halb selbstständig war, habe ich es den Leuten oft durchgehen lassen, aber seit ich mich im März 2019 ganz selbstständig gemacht habe, bin ich sehr viel konsequenter geworden.
Prävention - was ist das denn? 😏
Was in Österreich z. B. überhaupt noch nicht angekommen ist - außer vielleicht bei der SVS (der Versicherung der Selbstständigen) - ist das Thema Prävention.
In Deutschland bieten viele Kassen z. B. die (kostenlose) Teilnahme an Yoga-Kursen als Präventivmaßnahmen einmal pro Jahr an.
So was existiert in Österreich quasi nicht. Meine Krankenkasse der Selbstständigen hat einen Gesundheitshunderter 1x/ Jahr - ich nehme also eine Gesundheitsdienstleistung für mehr als 150 Euro in Anspruch und kann mir dann einmal im Jahr 100 Euro von der Kasse zurückholen.
Ich finde Präventivmaßnahmen für Erwachsene sehr gut und wertvoll, aber noch wichtiger finde ich sie für Kinder. Inzwischen sehe ich immer häufiger Kinder in meiner Praxis, die sicher keine Schmerzen im Kindes-oder Jugendlichenalter haben müssten, wenn sie sich im Kleinkindalter eine Kindertherapeutin mal angeschaut hätte.
Ein Teil meiner Vision ist, dass wir Kindertherapeutinnen einen (verpflichtenden) Platz im Mutter-Kind-Pass zu bekommen. Wenn ich ganz groß träumen dürfte, dann wünsche ich mir einen Termin, um den 4. Monat herum (da würde man die ganzen schiefen Köpfe rechtzeitig sehen) und dann noch mal einen mit 2 oder 3 Jahren. Viele Sachen fallen dann erst den Schulärztinnen oder Ärzten auf.
Ich denke, damit könnten wir sehr viel ausrichten und vorbeugen.
Zurzeit habe ich z. B. wieder zwei Kinder, die im Alter von 8 bzw. 10 Jahren eine mega Rectusdiastase haben - also quasi ein Loch im Bauch - und dann wundert sich das Umfeld, warum sie in der Schule nicht ruhig auf ihrem Hintern sitzen bleiben können. Da braucht es Rumpfstabilität und die Kinder wären um einiges ruhiger unterwegs.
Eine Rectusdiastase bei Babys ist normal bis zum Krabbelalter, aber kein Schulkind sollte so was haben.
Direktzugang für Physiotherapeutinnen und Therapeuten
Für viele Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten bedeutet eine Aufwertung unserer Berufsgruppe, wenn wir den direkten Zugang wie z. B. in den USA oder Australien bekommen. Das würde bedeuten, dass wir immer ohne ärztliche Überweisung arbeiten und auch Diagnosen stellen dürften.
Das sehe ich eher kritisch - nicht weil ich mir die Diagnostik nicht zutraue, im Gegenteil. Aber ich befürchte, dass wir ziemlich viel an Versicherungen blechen dürfen, um uns dann gegen alle Eventualitäten abzusichern.
Fazit
Beim Schreiben des Artikels ist mir wieder aufgefallen, dass die Wertschätzung definitiv bei mir selbst beginnt. Denn wenn ich nicht glaube, dass meine Zeit soundsoviele Euro wert ist, dann werde ich das auch nicht überzeugend und glaubwürdig nach außen tragen.
Aber auch das Gesundheitssystem könnte definitiv ein Update gebrauchen!
Alles beginnt mit der Selbstliebe und das ich mir einen gewissen Lebensstandard genehmige. Und diese Selbstliebe hat dann eben die Konsequenz, dass ich vielleicht meine Preise anhebe und es sich nicht mehr jeder leisten kann.
Aber ich weiß inzwischen, dass ich nicht die ganze Welt retten kann und will. Deshalb ist das in Ordnung für mich und ich lasse mir auch kein schlechtes Gewissen mehr machen.
In den kommenden Jahren werde ich definitiv an diesem Mutter-Kind-Paß Thema dranbleiben. Mal sehen ob es sich in meiner Lebenszeit noch ändert...